Weniger Fälle trotz Corona
24. November 2020
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24. November 2020
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«Stoppt Merkel», «Stoppt Spahn»: Solche Forderungen sind auf Demonstrationen gegen die Corona-Regeln zu lesen.
Wiesbaden (dpa/lhe) - «Stoppt Merkel», «Stoppt Spahn»: Solche Forderungen sind auf Demonstrationen gegen die Corona-Regeln zu lesen. Die Kritik an Beschränkungen wird dabei mit den Menschen verknüpft, die sie verkünden. Nach Bundes- und Landespolitikern geraten seit Monaten zunehmend auch Kommunalpolitiker in den Fokus, weil die Bekämpfung der Pandemie regionalisiert wurde.
Für Schlagzeilen sorgte beispielsweise Ende Oktober Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD), als er sich über Facebook an die Öffentlichkeit wandte. Politiker müssten zwar von Haus ein dickeres Fell haben, schrieb er. «Der Ton in den Kommentaren, Nachrichten und E-Mails an mich ist allerdings in den letzten Wochen sehr viel rauer geworden.» Manches nehme er hin. Doch wenn er oder seine Familie bedroht würden, sei «die Linie eindeutig überschritten».
Nach massiven Drohungen im Internet gegen Kaminsky ermittelte schließlich die Polizei. Ein 25-Jähriger aus dem Main-Kinzig-Kreis soll für Äußerungen im Netz verantwortlich sein, in denen dem SPD-Politiker Gewalt angedroht wird.
Doch auch wenn die Pandemie Konflikte anheizt, eine Welle von Drohungen ist bisher nicht erkennbar. Im Gegenteil: Der Polizei wurden im laufenden Jahr deutlich weniger Fälle von politisch motivierten Drohungen gegen Amts- und Mandatsträger gemeldet als 2019. Laut Landeskriminalamt wurden bisher nur 32 Fälle erfasst. Im gesamten Vorjahr waren es 96 - allerdings befeuert durch große Aufmerksamkeit und verstärkte Ermittlungen nach dem Mord an Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
«Inwieweit das Straftatenniveau des letzten Jahres erreicht wird, kann derzeit nicht abschließend bewertet werden», sagte eine LKA-Sprecherin. Durch Nachmeldungen könne die Zahl für das Jahr 2020 noch steigen. Ein Zusammenhang zwischen Drohungen und der Covid-19-Pandemie lasse sich für das Jahr 2020 derzeit nicht erkennen.
«Was wir im Moment sehen, sind Einzelfälle», sagt auch der Marburger Demokratieforscher Reiner Becker. Es gebe keine empirischen Daten, die andere Schlüsse nahelegten. Allerdings rage der Hanauer Fall heraus. Becker hatte schon im Mai vor dem Potenzial für Bedrohungen und Übergriffe auf Kommunalpolitiker gewarnt, das die Corona-Politik mit sich bringe.
Auch der Hessische Städte- und Gemeindebund (HSGB) sieht einen Großteil der Politiker aktuell nicht im Fokus: «Die wenigsten Kommunalpolitiker haben Corona-Maßnahmen zu beschließen», erklärte ein Sprecher. Eine Ausnahme seien die kreisfreien Städte. Bedrohungen richteten sich eher gegen Mitarbeiter der Gesundheitsämter und Rathäuser.
Das Potenzial für eine Verschärfung der Situation ist allerdings da: Der Corona-Protest verbreite sich in der Fläche - auch wenn nicht jede Veranstaltung wirklich stattfinde, sagt Demokratieforscher Becker. «Das Thema Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen ist zunehmend nicht nur ein Phänomen in den Landeshauptstädten, sondern es wird lokaler.» Es sei daher sehr wichtig, dass Bürgermeister im Umgang mit dem Phänomen Sorgfalt an den Tag legten, weil diese protestierende Szene nicht per se homogen sei.
Grundsätzlich sei der Protest wichtig: «Die Kritik an den Maßnahmen ist auch berechtigt, denn es werden Freiheitsrechte eingeschränkt und wenn das nur zu schlucken und gut zu heißen wäre, würde das eher einem autoritären Staat entsprechen», erklärt der Leiter des Demokratiezentrums Hessen. Allerdings radikalisierten sich Teile der Szene und böten Anknüpfungspunkte, die die rechtsextreme Szene mobilisierten. Wenn bei Demos Gruppen dazukämen, die das demokratische System ablehnten, könnten neue Gesinnungs- und Deutungsgemeinschaften entstehen. «Das sind unterschiedliche Gruppen, aber geeint durch Leitthemen wie die Kritik an den Corona-Maßnahmen.»
Die Gefahren reichen bis hin zur politischen Systemfrage - also dass Menschen die Demokratie nicht mehr akzeptieren. Kritik an Einschränkungen werde dann mit Kritik am politischen System verknüpft «bis hin zu der Feststellung: Wir fühlen uns nicht mehr vertreten». Noch sei es aber nicht soweit. «Das ist gerade so eine Art Zwischenstadium, wo man genau hinsehen muss.»
Quelle: dpa - Deutsche Presse-Agentur GmbH